War Imam adh-Dhahabi ein Feminist – oder wie man ein Zitat erfindet

„Es gibt viele Männer, die Hadithe fabriziert haben, jedoch wurde keine Frau in der Geschichte des Islam der Fabrikation beschuldigt. Wenn daher die intellektuelle und religiöse Integrität von irgendjemandem in Frage gestellt werden sollte, dann die von Männern. Frauen haben religiöses Wissen immer wahrheitsgemäß übermittelt.“

Dieses Zitat wird in einem Artikel von Ruggero Vimercati Sanseverino (2024), Professor für Hadith-Studien und prophetische Tradition am Zentrum für Islamische Theologie (ZITh) in Tübingen, angeführt und Imam adh-Dhahabi (1274-1348) zugeschrieben.[1] Bevor ich auf die Zuschreibung zu sprechen komme, möchte ich vergegenwärtigen, was dieses Zitat eigentlich aussagen will. Diese Aussage, die – unüberlegt gelesen – zeitgemäß und damit willkommen rüberkommt, ist eigentlich im Kern sehr problematisch. Denn hier wird explizit die Integrität eines ganzen Geschlechts, der Männer, pauschal in Frage gestellt. Präzisiert man nämlich das unbestimmte „irgendjemand“, dann müsste es heißen: „irgendein Geschlecht“. Aber warum soll die Integrität irgendeines Geschlechts in Frage gestellt werden?! Warum soll das überhaupt zur Debatte stehen? Für mich ist das nicht nachvollziehbar. Auch historisch ist das sehr problematisch, denn sowohl Männer als auch Frauen sind unverzichtbare und unbestreitbare Träger der prophetischen Tradition. Irgendein Geschlecht als solches in seiner Integrität per se und pauschal in Frage zu stellen, ist sowohl rational, als auch historisch und religiös absurd und nicht vertretbar. Das Zitat klang für mich nach feministischer Ideologie und es war für mich historisch wenig plausibel, dass adh-Dhahabi exakt diese Aussage gemacht hat. Aus diesem Zweifel an der historischen Plausibilität heraus habe ich mich auf den Weg gemacht, dem vermeintlichen Zitat auf den Grund bzw. auf die Quelle zu gehen.

Sanseverino gab für das obige Zitat einen Artikel[2] von Dr. Yasmin Amin (2023) als Quelle an. Yasmin Amin beschäftigt sich in vielen Schriften mit dem Geschlechterverhältnis in der islamischen Tradition. Das Zitat findet sich in exakter Form in dem Artikel von Yasmin Amin, klar und deutlich mit Anführungszeichen adh-Dhahabi zugeschrieben. Als Quelle für das Zitat gibt sie „Al-Muhaddithat: The women scholars in Islam“[3] von Mohammad Akram Nadwi (2007), Seite XV, an. Auf der angegeben Seite fand ich jedoch weder das Zitat, noch wurde überhaupt adh-Dhahabi erwähnt. So fragte ich Yasmin Amin, ob sie mir weiterhelfen könne. Sie schrieb, dass ihr ein Fehler unterlaufen sei und das Zitat sich auf Seite 235 finden lasse. So schlug ich die entsprechende Seite auf. Da zitiert Nadwi den adh-Dhahabi wie folgt: „Al-Dhahabī says: ‚I did not know among the women anyone who has been accused [of lying] or whose ḥadīth has been left [for that]‘.“

Das obige Zitat, das bei Sanseverino und Amin angeführt wurde, findet sich so also bei Nadwi nicht. Die ursprüngliche Quelle, die Nadwi angibt und auch von Amin bestätigt wurde, enthält auch nur das, was Nadwi auf Englisch korrekt wiedergibt. In seinem Werk „Mizan al-Itidal“, das der Tradentenkritik gewidmet ist, schreibt adh-Dhahabi unter der Kapitelüberschrift über unbekannte weibliche Überlieferer lediglich: وما علمت في النساء من اتهمت، ولا من تركوها.[4] Also in etwa das, was Nadwi im Englischen wiedergab; auf Deutsch: „Ich kenne unter den Frauen keine, der Vorwürfe gemacht wurden oder über die hinweggegangen wurde.“ Ob diese Aussage absolut und allgemein gilt, oder spezifisch zu verstehen ist, ist eine Frage für sich, um die es mir hier nicht geht.

Es geht mir darum, dass einem Gelehrten aus der Vormoderne eine Aussage zugeschrieben wird, die er so nicht getätigt hat. Ich möchte Frau Amin keine absichtliche Falschzuschreibung unterstellen. Vielleicht war es ihr feministisches Paradigma, dass ihr das Zitat unbewusst ‚ausbauen‘ ließ… Ich weiß es nicht.

Wie dem auch sei, Fakt ist, dass das Zitat so zum ersten Mal bei Amin auftaucht und sich in den angegebenen Quellen nicht finden lässt. Vor der Veröffentlichung dieser Feststellung, habe ich nochmals Yasmin Amin geschrieben und ihr von der Deformierung des ursprünglichen Zitats berichtet. Dann habe ich sie gefragt: „Wo finde ich die genaue Aussage? Oder ist das auch ein Fehler?“ Darauf habe ich keine Antwort mehr bekommen. Auch den Herrn Sanseverino habe ich auf die falsche Zuschreibung aufmerksam gemacht und ihn um Klarstellung gebeten. Er bedankte sich für meine interessante Nachforschung, bestätigte, dass auch er auf der besagten Seite keine solche Aussage findet, aber sich auch nicht vorstellen kann, dass die Aussage gänzlich erfunden worden ist. Sobald er die richtige Referenz finde, würde er eine Korrektur veranlassen. Für mich unverständlich, wenn der Fehler bereits von mehreren Wissenschaftlern bestätigt wurde. Leider wurde der Fehler noch nicht korrigiert.

Wir Wissenschaftler tragen doch die Verantwortung, die Geschichte möglichst korrekt wiederzugeben. Dr. Amin selbst ging in einem Beitrag mit dem Titel „Historical Fiction, Fictionalized History or Historical Facts?“ der Frage nach „whether or not the details of the past were changed or manipulated during their recreation and recording in the name of preserving the past and setting examples and creating role-models or not“.

 

[1] https://www.islamiq.de/2024/05/25/frauen-und-maenner-im-hadith-zwischen-theologie-und-kulturkampf/

[2] Amin, Yasmin: Geschlechtergerechtigkeit im Ḥadīṯ – ein Oxymoron? In: Eine Frage des Geschlechts? Islamisch-theologische Perspektiven für eine gendergerechte Theologie der Gegenwart. Hg. Dina El Omari, Asmaa El Maaroufi, Katajun Amirpur. Baden-Baden: Ergon, 2023. S. 141-160. Das Zitat befindet sich auf Seite 154.

[3] Nadwi, Mohammad Akram: al-Muhaddithat: The women scholars in Islam. Oxford: Interface, 2007.

[4] Dhahabi: Mizan al-itidal fi naqd ar-rigal. 7. Beirut: Dar al-Kutub al-Ilmiyya, 1995. S. 465.

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